Jens Semrau

Zur Eröffnung der Ausstellung - Marion Stille, Malerei - am 20.09.2009 in der Klostergalerie Zehdenick

Marion Stille zeigt neue und neuere Bilder. Es ist eine Malerei aus dem Verständnis ihrer und meiner Generation und des Herkommens, die Sie und ich gemeinsam haben.

Zu diesem Verständnis gehört es, die Malerei als eine existentielle, schwerwiegende und schwierige Sache zu betrachten. Sie sagte im Gespräch am Dienstag beim Ausstellungsaufbau: Du weißt ja, wie mühsam man zu sich selber kommt. Diese Haltung ist aber die Grundlage für die künstlerische Selbstgewissheit, wie sie, denke ich, in dieser Ausstellung sichtbar wird – die Übereinstimmung der Malerei mit einer inneren Gestimmtheit und Gemütslage, über die man natürlich nur mutmaßen kann und die auch kein starrer, dauerhafter Zustand sein wird, die sich in den Bildern hier aber als Beständigkeit und Festigkeit, als die Kraft dieser Malerei darstellt.

Was den künstlerischen Prozess dieser Art antreibt, reguliert und prägt, lässt sich auch nur vermuten - mir kam der Gedanke, dass es vielleicht nicht falsch ist, wenn man ihn mit dem Vorgang des Atmens vergleicht. Ich meine dies nicht nur ganz allgemein, sondern schon auch als eine Besonderheit des künstlerischen Vorgangs bei Marion Stille.

Es ist eine modulare Malerei, die auf die Spannungen von modularen Wertigkeiten baut, nicht auf Reiz-Strukturen oder auf eine verschärfte Formensprache. Inhaltliche Bedeutungsbezüge im Sinne von Botschaften hinter dieser Malerei sehe ich nicht, das Medium Malerei selbst ist die Botschaft. Es gibt eine bestimmte Sinnlichkeit und, wie ich aus dem Gespräch weiß, immer einen konkreten Bezug zur Landschaft oder überhaupt zur Gegenständlichkeit, dies ist der sinnliche Anlass und auch ein Bedeutungsbezug, aber nicht neben oder hinter der Malerei. Insofern empfinde ich die malerischen Wertigkeiten als quasi physiologische Strukturen und die künstlerische Arbeit in diesem Fall als einen Prozess, der mit der Atmung vergleichbar ist – ein Denken und Leben in der Malerei.

Der Gedanke an das Atmen sozusagen als verinnerlichtes Gesetz kam mir im Hinblick auf die Nähe von Marion Stille zur Musik, zur freien Musik. Man kann das sicher auch aus dem Bildnerischen ableiten, aus den Strukturen und aus deren Rhythmus. Solche Deutungsformeln reichen aber nicht weit, die Malerei geht darüber hinaus - etwa bei den roten Tafeln hier, wo Rhythmus und Struktur sich in Bewegung aufzulösen scheinen und die Malerei vergessen macht, dass sie durch einen Wirklichkeitsbezug getragen und gehalten wird. - Es ist Marion Stille wichtig zu betonen, dass sie vom Naturmotiv ausgeht.

Die Bilder haben mit Landschaft zu tun, die meisten jedenfalls, das ist erkennbar, aber dass es um ganz bestimmte Landschaftsmotive geht, scheint mir nicht ablesbar, es ist doch eher eine freie, ungegenständliche malerische Form.

Das Bekenntnis zur Natur hat seinen Grund zunächst mal darin, dass diese Malerei nicht willkürlich ausgedacht und sozusagen hergeholt ist, sondern immer auf der sinnlichen Empfindung beruht, für die es einen Anlass und sogar einen bestimmten Ort gegeben hat. Dies, die Empfindung oder Gestimmtheit ist aber wohl nicht ans Motiv gebunden, sondern immer schon auf das Medium Malerei bezogen.

Es gibt vielleicht eine Art Zweisprachigkeit oder sogar Mehrsprachigkeit: eine Muttersprache der Empfindung und noch davor eine Sprache der wirklichen Gegenstände, und dann die Sprache als Ausdrucksmittel, die reflektiert ist – wenn Sie so wollen, eine Sprachphilosophie. Die Malerin denkt in der Sprache der Malerei, aber sie folgt der Empfindung und sucht die Übereinstimmung mit ihr.

Marion Stille sagte einmal, das beides von Anfang an synchron gehen muss. Der Ansatz ist sichtlich bestimmt von behutsamer Offenheit für die Empfindungsgrundlage. Das mit den Ausdrucksmitteln Gemachte soll das Gemeinte der sinnlichen Gestimmtheit nicht überrumpeln und übertönen. Der malerische Prozess und das Bemühen um Ausdruck bringen es mit sich, dass die Bildstrukturen verdeutlicht und verselbständigt werden, manchmal sehr vehement. Es gibt Bilder mit sehr kräftigem grafischem Gepräge und dann solche, die aus flächigen Schraffuren gebaut sind und deren Farb-Modulation beinahe pastellhaft erscheint. Es gibt auch den gesteigerten Farbenklang, der aber nie gewaltsam und unmotiviert schrill wird, weil er aus einer Farbenkultur hervorgeht - oder auch ausbricht.

Es ergab sich, dass solche Bilder in dieser Ausstellung von der Empore herunter mit den Farben Rot und Blau tonangebend wirken. – Wenn das Ensemble der Bilder in einer Ausstellung sich fast durch einen eigenen Willen gruppiert, so ist es auf eine etwas rätselhafte Weise sicherlich ähnlich wie in der Malerei selbst, dass dieser Eigenwille oder das Bildgesetz zur Empfindung synchron gehen muss. Die auf diesem Wege zustande gekommene Selbstgewissheit, dass die Malerin „zu sich selbst kommt“, wird glaubhaft – dass macht die Authentizität aus.

– Das anfangs angesprochene Problem des Herkommens darf man nicht falsch verstehen. Sicherlich ist die Nähe zur Berliner Malerei, bzw. der Ostberliner Malerszene, größer als zu anderen Orientierungen. Aber auch die Ostberliner Kunst war immer eher heterogen und charakteristisch ist, dass jeder wirkliche Künstler für sich selbst und gegen das steht, was „angesagt“ scheint, sei es von der Seite der Allgemeinheit oder der Gesellschaft, sei es in künstlerischer Hinsicht. Auch Otto Nagel bekannte einmal, er könne nur „gegen etwas“ malen, aber nicht „für etwas“. Dasselbe lässt sich von Hans Vent und Dieter Goltzsche sagen, die einmal Marion Stilles Lehrer waren. –

Sie hat das konstruktive Denken im Bildnerischen aufgenommen, das an der Hochschule in Weißensee gelehrt wurde, und sie geht damit so frei um, dass ihre Arbeit nichts mehr zu tun hat mit der Dähn-Nachfolge und dem von dort kommenden „Weißenseer Zeichnen“. Ein konstruktives Gerüst sehe ich eigentlich immer in ihren Bildern, auch da, wo es herausgenommen scheint, wie bei den roten Tafeln, oder wie überschrieben durch vehemente Zeichnung.

Es bleibt eine Strenge im Bildbau. Sie hat keinen minimalistischen Ansatz, und sie hat von ihren Erfahrungen, glaube ich, nichts vergessen oder weggeworfen. Ich kann auch bezeugen, dass Marion Stille immer einen weiten Blick hatte; ich habe einige Male gemerkt, dass ihr Interesse und ihre Kenntnis älterer und neuerer Kunst manchmal weiter reicht als bei mir. Aber was ihre eigene Arbeit betrifft, ging es ihr darum, dass sie „zu sich kommt“. Das es so ist, zeigt die Ausstellung.


Zur Eröffnung der Ausstellung - Marion Stille, Malerei, Zeichnungen, Holzschnitte - am 5. 9. 2018 in der Galerie 100 in Berlin

09.10.2018